Wochenend und Sonnenschein (Teil 1)

… ist sicherlich nicht der originellste Ansatz für einen Artikel, aber was soll man schon sagen, wenn an einem Wochenende Sonnenschein herrschte? Was für ein Wochenende – und wir sitzen drinnen und spielen Schach. Abschlusswochenende, zwei Runden, und es geht um Barfuß oder Lackschuh, Alles oder Nichts – denn trotz der zwei Erfolge in den letzten drei Runden und dem Verlassen der HSV-Ränge war unser Klassenerhalt noch lange nicht in trockenen Tüchern. Wir konnten zwar hoffen, dass alles für uns läuft, aber selber gewinnen wäre auch nicht ganz schlecht.

Also machten wir uns erstmalig auf am Sonnabend, ab in die Kantine der Signal-Iduna. Dieses Jahr zwar ohne lautstarke Rappelkühlung, aber wer im Ausgleich dachte, dass die Luft mit 80 Schachspielern plus noch 20 Nasen im Verlauf des Tages nachlassen könnte, der sah sich getäuscht – sie war bereits am Anfang auf einem Niveau, das Nachlassen nicht erlaubte. Und das passte ganz gut, denn auch wir durften uns Nachlassen nicht erlauben. Zur genauen Ausgangslage: Mit 5 Mannschaftspunkten waren wir auf Platz 7, Diogenes 2 und Königsspringer 3 hatten 4 Punkte, St. Pauli 3 hatte 2 Punkte, zwei Absteiger würde es geben. Rein theoretisch konnte man Konstellationen kreieren, bei denen andere Teams in den Strudel hätten geraten (oder wir sogar noch aufsteigen) können, aber die müssen wir eher nicht beachten. In Runde 8 nun also St. Pauli 3 gegen Königsspringer 3 – einer würde punkten – Diogenes spielte gegen den Aufstieg-in-der-Hand-Haber Weiße Dame, und wir gegen die DWZ-beste Mannschaft in Union Eimsbüttel, die bislang aber deutlich unter ihren Möglichkeiten geblieben war.

Normal würde ich an dieser Stelle auf die Aufstellungen der Kontrahenten eingehen, aber nie fiel es mir so schwer wie diese Runde. Gut, unsere kann ich ja mal nennen: 1 Niels Jørgen, 2 Christoph, 3 Matthias, 4 Martin, 5 Dave, 6 Andrei, 7 Marten, 8 Marcel – letzterer spontan eingesprunzwungen, in alter Tradition hatten wir mit einer kurzfristigen Absage klarzukommen. Das war einfach. Von Eimsbüttel waren die Bretter 2 bis 8 und Nummer 12 da: Gerrit Voigt (DWZ 2170/Elo 2182), Thorsten Stelting (2145/2199), Andreas Förster (2082/2176), Lutz Franke (2108/2188), Holger Henrich (2107/2201), Ralf Adloff (2095/2116), Detlev Jarnuczak (2037/-) und Karlheinz Leonardi (1999/2142). Im Schnitt sind das übrigens so etwa 125 mehr als wo wie wir haben tun. Und so nahm Stefan Wolff die Aufstellungen entgegen und dann pfiff er an (sonstige gesichtete und mithelfende Funktionäre dieses Wochenende: Martin Bierwald als zweite Pfeife, Hendrik Schüler und Gunnar Klingenhof als Helfende Hände – allen vielen Dank fürs Einrichten der Endrunde). Und dann spielten wir ein paar Züge, bis auf Martin, da Holger Henrich etwas verspätet kam.

Und? Wer hat diesen Aufmerksamkeitstest bestanden? Richtig: Martin ist doch an 4 gemeldet, Holger aber an 5 – da passte was nicht. Und das fiel auf, als Holger dann kam – Union hatte sich schlicht falsch hingesetzt und – das muss man auch erwähnen – beim Bemerken sofort Selbstanzeige erstattet. Somit war nach 10 Minuten erst einmal Chaos angesagt – wie müsste man nun entscheiden? Im Prinzip war allen klar, dass Dave an 5 in Lutz Franke einen zu niedrig eingesetzten Gegner hatte, aber Martin an 4 hatte auch nicht den gemeldeten – was bedeutet das? Und eine virtuelle Umstellung für Union mit Henrich an 4 hieße ja, dass Adloff und Jarnuczak hätten ein Brett aufrücken müssen, weil da in dieser virtuellen Aufstellung wegen der fortlaufenden Ranglistennummern niemand mehr zwischen gepasst hätte. Letztlich blieb es aber bei der (nach nochmaliger Regelkonsultation auch vollkommen korrekten) Minimalvariante: Dave gewann „kampflos nach 8 Zügen“, der Rest spielte weiter. 1:0 durch pures Glück – aber das hatten wir ja bislang in der Saison nicht so viel, und den geschenkten Esel schickt man nicht nach Wesel, getreu unserem Vereinsmotto „Fortes fortuna adiuvat“.

Nachdem nun aber alle anderen Beteiligten auch komplett aus ihren Partien raus waren, schaute ich einmal kurz rum, und nun fürchtete ich einen Moment lang, wir hätten auch falsch aufgestellt – war das wirklich Niels Jørgen an 1? Oder doch Jens Ove? Lila-gelbes Hawaiihemd, 4. g4 gespielt, überhaupt nur Bauernzüge… aber nein, es war schon der richtige Fries Nielsen.

Ansonsten war noch nicht so viel passiert (und wegen meiner eigenen Partie habe ich auch mal wieder weniger mitbekommen), weswegen wir die Uhr vorstellen. Und zunächst mal einen Blick auf die Konkurrenz werfen: St. Pauli 3 und Königsspringer 3 waren im direkten Duell beide nicht komplett angetreten, was hier zwar für uns nicht so zentral war, aber etwas optimistisch für den Sonntag stimmte – würde das erneut passieren, wären ihre Chancen zu punkten natürlich stark reduziert. Diogenes hingegen führte bereits gegen Weiße Dame – die mit großem Buffet angetreten waren, Bier, Energydrinks und Schnittchen neben den Tischen aufbauten. Vermutungen über eine verfrühte Aufstiegsfeier waren allerdings wohl unberechtigt, möglicherweise informierte Kreise berichteten von einer Ehe eines Spielers der Mannschaft, die das ganze verursachte. Aber Diogenes führte, wir auch, St. Pauli auch. Würden die Teams jeweils gewinnen, wäre alles entschieden (Abstiege für die Millerntor-8 und Kingspring). Es ist nun aber so, dass ein 1:0 im Fußball reichen kann, im Schach eher selten.

Also doch die Bretter ansehen: 64 Felder, quadratisch angeordnet, abwechselnd hell und dunkel, mit Klötzen drauf. Und die standen an Brett 1 so, dass NJ offenbar wusste, was er tat, als er seinen Bruder imitierte: das wirkte alles etwas überspielt. Christoph an 2 wirkte das auch, allerdings gegen uns. Die Spitzenbretter also schneller entschieden. Fragezeichen? Matthias hatte eine halbe Schachtelstellung mit Initiative, Martin eine Gar-nicht-Schachtelstellung unter starkem gegnerischem Druck, auch Andrei wirkte eher passiv, ich hatte eine Eröffnungsungenauigkeit meines Gegners zunächst gut angepackt, um dann 10 Züge lang nur zweit- oder drittbeste zu finden und stand am Ackerrand, Marcel ebenfalls eher passiv. Wenn sich die Tendenzen bestätigen sollten, dann wäre das ein 3:5, und nun, da Königsspringer gegen St. Pauli in Stellung kam und Diogenes gegen Weiße Dame nachlegte, wären wir auf einmal auf einem Abstiegsplatz.

Und zunächst bestätigten sich Tendenzen: Christoph verlor, Niels Jørgen stellte den alten Abstand taktisch (nein, es war wirklich nicht Jens Ove) wieder her, Andreis Gegner war noch etwas unentschlossen, ob er die Dame gewinnen oder matt setzen wollte. Also 2:2. Marcel entwickelte hingegen etwas Gegenspiel und könnte seine Stellung verbessert haben, während bei Matthias die Verwertung des Vorteils unklar wurde, aber auch Martins und meine Gegner nicht so richtig die Hebel zeigten, die sicher in den Stellungen drin waren. Alles also in der Tendenz ähnlich wie zuvor, aber weniger klar scheinend.

Andernorts hatte inzwischen Diogenes den Sieg gegen Weiße Dame so gut wie in der Tasche, wodurch auf einmal Marmstorf bei einem Gewinn Aufsteiger werden könnte – oder St. Pauli II, die bei Merkwürdigkeiten in höheren Ligen auch noch für ihre Erste nachrücken könnten. Und beide standen in ihren Kämpfen gut da. Aber wer redet dieses Jahr in Hamburg schon von „Aufstieg“? Abstieg is where it’s at, baby! St. Pauli 3 gegen Königsspringer 3 2:2 ist also relevanter.

Ebenfalls relevant: Marcel fiel irgendwie auseinander, keine Ahnung, wie. 2:3. Zum Ausgleich übersah mein Gegner ein Motiv, sodass ich auf einmal einen Bauern gewinnen und in seine Stellung eindringen konnte. Er hatte allerdings einen Freibauern auf der sechsten Reihe. Martins Gegner ließ eine einfach bessere Stellung durch Generalabtausch aus, da ihm diese wohl eine zu hohe Remisbreite gehabt hätte, so aber Martin noch voll im Spiel war, während Matthias zwar in des Gegners Stellung parkte, aber eventuell auch zugeparkt war und stets mit gegnerischen Dauerschachideen zu kämpfen hatte.

Tja und dann passierte eine Weile nichts. Also es passierte einiges, aber keine Ergebnisse. Martin konnte sehr viele Figuren laugwitzen und sich damit gute Remischancen erarbeiten, zwar hatte der Gegner einen weit vorgepreschten a-Bauern, aber mit Martins Turm dahinter und des Gegners nur von der Seite decken könnend sollte das doch nicht mehr verloren werden. Apropos „laugwitzen“, Rainer L. schaute auch kurz rein, und inzwischen war Rainer J. als Zweitfan gekommen und drückte uns die Daumen. Ich konnte zwar zwischenzeitlich zwei weitere Bauern gewinnen, musste aber auch zwei für eine Aktivierung meiner Figuren und einen wichtigen Läufertausch geben, also materiell alles beim Alten, jetzt mit zwei verbundenen Freibauern gegen, aber einem entfernten für mich.

Beides sollte aber nicht mehr entscheidend sein, denn nach einem Tempoverlust meines Gegners konnte ich mit einem Durchbruchmotiv einen ganz anderen Kollegen durchwandern lassen – 3:3. Martin inzwischen todremis, wenn er nicht eine total inkompetente Patzgurke ist, Matthias unverlierbar – aber wie mehr holen? – ein Punkt war praktisch sicher. Und da Martin keine total inkompetente Patzgurke ist, durfte Matthias jetzt beim Stand von 3½:3½ überlegen, ob er ein Risiko eingehen und einen Bauern opfern wollte für möglicherweise entscheidenden Angriff – oder doch eben den passer montanus in der manus nehmen wollte, statt der columba palumbus auf dem tectum nachzujagen. Dann zog er f5 – aleae iactae sunt, die Würfel sind geworfen, aber wie würden sie fallen (Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags an dieser Stelle: das ist, was das Zitat meint: Caesar hat die Würfel geworfen, etwas unaufhaltsames in Bewegung gesetzt, und würde nun das Ergebnis abwarten müssen. „Die Würfel sind gefallen“ ist also falsch.)? Genug im Online-Lateinwörterbuch gestöbert um die Spannung hochzuhalten, Schwarz fiel spontan komplett um, ein schöner Sieg und damit auch ein Gesamtsieg. Mit viel Glück, speziell am Anfang, aber auch das darf man mal haben. Diogenes gewann ebenfalls, St. Pauli 3 und Königsspringer trennten sich 4:4. Marmstorf gewann auch, übernahm damit die Pole Position im Aufstiegsduell, war aber noch 2 Punkte hinter unserem letzten Gegner St. Pauli 2, die wie gesagt noch (unbeteiligte) Suppenspucker werden könnten.

Zwar war noch nichts entschieden, aber die Ausgangssituation war sehr, sehr gut, und so optimistisch waren wir wohl alle nicht in das Wochenende gegangen. Vor dem letzten Spiel lagen wir nun 2 Punkte vor Königsspringer 3, die mussten gegen Marmstorf ran, das seinerseits gewinnen musste um den Aufstieg aus eigener Kraft zu schaffen. Auch Diogenes war weiter hinter uns und müsste gegen Tabellenführer Königsspringer 2 erst einmal gewinnen, wobei die gerade ihre erste Saisonniederlage eingefahren hatten. Und nach dem Sieg und später im Schachcafé merkte man, wie der Mannschaft ca. 783 Steine von diversen Körperstellen abfielen. So entspannt saßen wir nach einem Kampf lange nicht mehr zusammen, das Bier schmeckte extremst lecker, aber heute hätte wohl auch Oettinger gemundet. Für Adelskron war die Situation aber noch nicht gut genug. Und dass die Bedienung mit den Bestellungen und der Abrechnung etwas überfordert war und wir zu acht an einem Vierertisch kuschelten – heute war alles egal.

Nur die Aufstiegsmöglichkeit, die theoretische – die war jetzt weg. Schade eigentlich.

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Und die Verlierer des Tages mussten auf der Loserbank in die ganz kuschlige Ecke.

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